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DER sparte4 KETTENBRIEF*:

n°2 (22/23): SPARTENSPRECHER WOLFRAM LOTZ: HEILIGE SCHRIFT I

   

MÄGDE, BUBEN!

Eigentlich schon in der Spielzeit 20/21 fest vorgesehen, als sein Stück DIE POLITIKER in der sparte4 Premiere feierte und bis in die Saison 21/22 unseren Spielplan bereicherte, musste sein Besuch coronabedingt dann doch immer und immer wieder verschoben werden – jetzt aber kommt er endlich: Wolfram Lotz. „Weithin bester Dramatiker der Theater-Gegenwart“ [1].

Nach zwei Jahren Pause gibt unser Format SPARTENSPRECHER endlich wieder die Möglichkeit, die jungen Schreiber der Nation hautnah zu erleben. Ferdinand Schmalz war schon da, Sascha Marianna Salzmann, Max Czollek, Nora Gomringer, Jakob Nolte, und jetzt also Lotz. Mit seinem Debüt- ... ja, was eigentlich? -roman? Trifft's nicht. Tagebuch vielleicht noch am ehesten. Überwältigend isses jedenfalls - dieses, sein Debüt HEILIGE SCHRIFT I. Vielleicht sogar einschüchternd. Ehrfurchtgebietend. Radikal. Weil wahnwitzig. Und ziemlich witzig. So verleiht das Hamburger Abendblatt Lotzens Lesereise prompt das Prädikat der "wahrscheinlich lustigsten Lesung des Jahres" [2]. Na also! Bumm! Und jetzt also bei uns! 

1981 als Sohn einer Apothekerin in Hamburg geboren und im Schwarzwald aufgewachsen, ist er dabei kein Fremder in Saarbrücken, wurde sein Erstling DER GROSSE MARSCH unter der Regie von Christoph Diem und in Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen doch in der sparte4 uraufgeführt. Ausgerechnet. Hier. In der kleinsten Spielstätte des Staatstheaters. Denn ein gewisser Hang zum Größenwahn, zum Monumentalen, das zeichnet sein Werk von Beginn an aus. Oder so sagt man. Vermutlich greift Lotz deswegen oft auf den Kniff zurück, seine dramatischen Werke dem Genre des Hörspiels zuzuordnen. Zu üppig das Beschriebene, zu krass die Szenenwechsel, zu arg das Darzustellende. Im ENDE VON IFLINGEN ist es der Tag des Jüngsten Gerichts, in IN EWIGKEIT AMEISEN die Apokalypse durch den atomaren Supergau, in der LÄCHERLICHEN FINSTERNIS (2015 von Theater heute zum Stück des Jahres ernannt) „[…] blitzt vieles auf von dem, was uns als verantwortungsvolle „Erste-Welt-Bürger“ beunruhigt, vom Coltan-Abbau bis zur Überfischung der Weltmeere, vom Krieg auf dem Balkan bis zum Umgang mit dem Islam. Gegen den Wahnsinn der Wirklichkeit setzt diese Aufführung die Anarchie des Theaters. ‚Das unmögliche Theater ist die ewige Forderung‘, meint Lotz" [3].

Unmöglichkeit. Das hat Lotz zum Credo erhoben. Darunter macht er’s nicht. Dass Lotz‘ Werk darüber hinaus zum Lustigsten gehört, das derzeit in der deutschsprachigen Literaturlandschaft (und auf den deutschen Bühnen) zu finden ist, mag seinen Teil zum immensen Erfolg des Autors beigetragen haben. Theresa Hein hat Lotz 2019 für die Süddeutsche Zeitung zum Interview getroffen und schreibt über sein Schaffen: „Lotz' Texte sind deswegen so gut, weil er in ihnen das Banale und das Existentielle verbindet, ohne ins Theoretische abzudriften. Wenn Bojan Stojković, eine Figur aus Die lächerliche Finsternis, zum Beispiel erzählt, dass er unbedingt eine Markise am Haus haben wollte und deswegen mit seiner Frau stritt, stellt Lotz damit menschliche Unnachgiebigkeit an einem alltäglichen Ehestreit dar. Und beschreibt dann im nächsten Satz, wie das mit der Markise ausgeht: Ein Nato-Bomber wirft im Kosovokrieg eine Präzisionsbombe ab, die Markise fängt Feuer und dann das Haus. Frau und Kind verbrennen im Keller und Stojković schimpft auf die vermaledeite Markise: "Meine Nachbarn sind ja auch nicht gestorben, obwohl Krieg war und es war ja immer Krieg. Nur meine Familie ist verbrannt, weil wir an unserem Haus die Markise hatten. Weil ich unbedingt diese Markise haben musste." Und weil es bei Lotz, bevor es traurig wird, immer ziemlich komisch ist, weiß man nicht, ob man lachen […] oder vielleicht […] doch eher weinen [muss]" [4].

Vor drei Jahren war das also. Lotz begleitete damals seine Frau, die berufsbedingt in den Elsass ziehen musste, nach Colmar, bzw. einem kleinen Dorf in der Nähe davon. Zwei Jahre blieb er da. DIE POLITIKER entstanden dort, und aus dem gleichen Schreibprozess eines ungefilterten Totaltagebuchs schließlich sein Opus Magnus HEILIGE SCHRIFT I. Ein großes Buch. Ein schweres Buch. Ein Totschläger. Vergleiche mit Arno Schmidts ZETTELS TRAUM drängen sich auf. Oder mit Joyces FINNEGANS WAKE. Dabei ist die Entstehung von Lotzens Buch allein schon sagenumwoben und Stoff für Legenden: in diesem kleinen französischen Kaff nämlich schreibt er über ein Jahr lang mit, jeden Tag und alles, von frühmorgens bis spät in die Nacht. Wenn ein Gedanke drängelte, zog er sich aufs Klo zurück. Alles sollte, musste raus. Dem Text will er die Kontrolle übergeben, unkontrolliert, unrevidiert, alles soll behalten werden, nichts gilt als falsch, nichts darf schlecht sein, nichts wird lektoriert, das Leben will er abbilden, allumfassend, in all seiner Größe und all seiner Epik, und eben auch in all seiner Banalität, und bloß nicht auf Veröffentlichung schielen. Und um das noch zu untermauern, betätigt er nach einem Jahr die Reißleine. Auf mehr als 3.000 Seiten ist das Werk da mittlerweile angeschwollen, diese literarische Geschwulst, und ein Ende nicht in Sicht. Lotz löscht kurzerhand das komplette Projekt von seiner Festplatte. Er selbst sagt, dass er das Gefühl hatte, sich von einem Monster befreien zu müssen. Nur 912 Seiten haben überlebt. Und wie? Lotz habe den ersten Teil des Manuskripts einfach rechtzeitig vorher an einen Freund gemailt. Genauso hat es sich zugetragen, versichert er. Legendenbildung. Im Buch heißt es: 

„Der realistischste Text kann nur durch Fehler entstehen“, denn: „[die] Schrift heiligt mir hier die Dinge, den profanen Lebenskram, erst dann sehe ich sie wirklich, sind / waren sie da; erst dann bin ich HIER" [5].

Überwältigend also? Und immer noch einschüchternd? Radikal? Womöglich. Aber eben auch attestiert saukomisch. Und wann bietet sich sonst schon die Gelegenheit im Anschluss an die "lustigste Lesung des Jahres" mit Deutschlands "bestem Dramatiker der Gegenwart" ein Bier an unserer Bar zu kippen? Berührungsängste? Braucht's nicht. Immerhin, um mit den Worten Lotz‘ zu schließen:

„[…] vor Sprache soll man nicht auf den Boden fallen / die soll doch wimmeln und quietschen wie ein Meerschwein // oder knistern wie eine Distel in der Mikrowelle“ [6].

Und Meerschweinchen sind ziemlich süß. So wie Wolfram Lotz. Hierauf: Amen.

SPARTENSPRECHER WOLFRAM LOTZ liest aus HEILIGE SCHRIFT I – am 29.9.2022 um 20 Uhr in der sparte4
Tickets zu 5,- Euro an unserer Vorverkaufskasse, im buchladen im Nauwieser Viertel, oder online via:
www.staatstheater.saarland/sparte4/spartensprecher/detail/spartensprecher-wolfram-lotz

In Kooperation mit der buchladen im Nauwieser Viertel. 


 

* mit diesem E-Letter dürft Ihr natürlich machen, was Ihr möchtet, ihn drucken, löschen oder wieder und wieder lesen. Aber am schönsten wär’s doch, finden wir von der sparte4, Ihr würdet ihn und seine frohe Kunde einfach weiterverbreiten. Nur zu! Immerhin heißt das Ding ja nicht umsonst KETTENBRIEF!

 


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Abendkasse 0681 9590571 
Ab einer Stunde vor Vorstellungsbeginn geöffnet.

Student*innen schauen für umsonst! 

Kostenlose Theaterkarten erhalten Studierende der Universität des Saarlandes, der HTW, der HfM Saar und der HBK Saar im Rahmen der Kooperationsvereinbarungen gegen Vorlage ihres Studierendenausweises ab drei Tage vor der Vorstellung. Ausnahmen und Sonderregelungen bitte an der Theaterkasse oder bei der jeweiligen Hochschule erfragen.

 


Impressum:

 

Redaktion: Thorsten Köhler – Künstlerische Leitung sparte4

Kettenbrief n° 2 (22/23): SPARTENSPRECHER WOLFRAM LOTZ: HEILIGE SCHRIFT I: Originalbeitrag von Thorsten Köhler

Textnachweise: [1] Süddeutsche Zeitung vom 3.9.2019: "Ich bin jetzt nicht total irre geworden dabei" von Theresa Hein
[2]: Hamburger Abendblatt vom 10.6.2022: "Die wahrscheinlich lustigste Lesung des Jahres" 
[3]: aus dem Festspielprogramm des BERLINER THEATERTREFFENS 2015
[4]: Süddeutsche Zeitung vom 3.9.2019: "Ich bin jetzt nicht total irre geworden dabei" von Theresa Hein
[5]: aus: Lotz: Heilige Schrift I, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022

[6]: ebd. 

Bildnachweise: Fotos Wolfram Lotz: ©Jürgen Beck; Foto Cover 'Heilige Schrift I': ©S. Fischer Verlag

 

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