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DER sparte4 KETTENBRIEF*:

n° 4 (22/23): FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN

   

MÄGDE! BUBEN! 

Und wieder gewährt die sparte4 spannende Blicke in ihre Arbeitsprozesse! Seit Anfang November bereichert Clemens J. Setz' FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN unseren Spielplan, das Regisseur Mark Reisig (dem treuen Gast der sparte4 schon durch seine Inszenierung von Wolfram Lotz' POLITIKERN bekannt) laut SR2 "mit viel Feinsinn und Mut zum Skurrilen in einem überaus stimmigen Bild auf die Bühne" brachte. Für uns Grund genug, dies "stimmige Bild" mal in den Fokus zu stellen, und Reisig nebst der Szenografin Viviane Niebling zu fragen, welche Idee(n) und mannigfaltige Gedanken sich eigentlich so hinter dem Bühnenbild zu ihrer gemeinsamen Inszenierung verstecken.

Erzwungenermaßen wird das Gespräch im Stehcafè einer deutschen Bahnhofshalle während eines Zwischenstopps auf dem Weg nach Saarbrücken geführt. Hektisches Ambiente muss man sich vorstellen. Was folgt, ist das Transkript einer Audio-Datei vom 31. Oktober inmitten der Endprobenwoche also. Die Premiere fand am 4. November statt. 

 

(Die Bahnhofshalle mit ihren ankommenden und ausfahrenden Zügen, den üblichen Durchsagen, unterlegt vom weißen Rauschen zahlloser Gespräche ebenso zahlloser (mitunter frustrierter) Zugreisender.)  

Mark Reisig: So. Los geht’s. (für sich) Ist das bescheuert.

Viviane Niebling (lacht)

MR: Hallo Thorsten [Köhler, künstlerischer Leiter der sparte4, Anm. d. Red.]. Ähm. Ja. Wir sprechen über die Bühne von FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN. Ähm. Wir sitzen hier in der Bahnhofshalle draußen vorm Cafè, also kanns zwischendurch ein bisschen lauter werden durch den Trubel drumherum. Genau.

Ich glaube, so einer der ersten Gedanken, die wir hatten, das war, die Einsamkeit des Protagonisten zu erzählen, und Einsamkeit aber irgendwie nicht als Phänomen oder irgendwas Übertragenes zu erzählen, sondern tatsächlich den privatesten Raum der Hauptfigur zu zeigen. Also tatsächlich den Wohnraum, den kleinstmöglichen Raum zu zeigen mit Bett, Küche und Dusche, alles in einem so, also wie so‘ne Einzimmerwohnung eigentlich. Und dann hat’s ja noch mehrere Ebenen im Stück, darüber haben wir auch gesprochen, über die Frage also, die wir uns eigentlich gestellt haben - wie erzählen wir noch andere Orte und die Callcenter? Und Viviane kam dann relativ schnell mit der Idee, dass man das sichtbar machen muss. Dass man die sichtbar machen muss. Also die Leute im Callcenter.
   

VN: Genau. Und aufgreifend, was Mark da meinte, dem Zuschauer also die Möglichkeit zu geben, in den intimen Bereich reinzuschauen, also ins Zimmer, und gleichzeitig aber auch zwei andere Spielorte [also C’s Laden und die Callcenter, Anm. d. Red.] als Spielorte hinzuzubringen und die alle miteinander zu verknüpfen. Wir hatten auch darüber gesprochen, dass die Unterscheidung zwischen Arbeit und Privatraum sozusagen, dass die in unserer Gesellschaft auch immer mehr verschwindet, auch gerade mittels digitaler Geräte, weil man arbeitet von Zuhause aus im Home Office. Daher auch die Frage, sitzen diese Callcenter-Menschen bei sich Zuhause oder sind die im Office? Und um damit dann auch zu spielen im Bühnenbild. Und deswegen gibt es da jetzt drei Spielorte, quasi ineinander gestaffelt, die sich auch miteinander verbinden können mit der Jalousie und mit dem Fenster in der Rückwand. Und damit das, was jetzt sozusagen lange verborgen bleibt, auch wieder im Bühnenbild zu finden ist, was wir also mit Kameras von hinten nach vorne holen auf den Gazevorhang, der dadurch auch zum Spielelement wird, zur Projektionsfläche und gleichzeitig vielleicht auch den Bildschirm eines Handys oder vom Computer wiederspiegelt. Was uns sozusagen über die Oberfläche in die Tiefe hineinschauen lässt.

MR: Ja, also die Gaze, die ist vorm Zimmer des Protagonisten C gespannt und funktioniert erstmal als klassische Trennung der Zuschauer*innen vom Spieler. Die Suche war also dann schon diejenige nach dem größtmöglich isolierten und privaten Raum, den man sich nur vorstellen kann. Man schaut also C nur durch die Gaze zu, und es gibt eigentlich keinen Moment im Stück, wo wir den Privatraum sehen, ohne durch diese Art Filter zu gucken. Und genau auf diese Gaze werden die Fake-Callcenter-Agenten dann über Live-Video projiziert. Und so verknüpfen sich die Callcenter mit dem Privatbereich der Figur. Und hinter dem Zimmer gibt’s noch einen sehr schmalen Raum auf der Bühne, und dort sind die anderen beiden Spieler, die mittels ständiger Kostümwechsel und dort hinten vor die Kameras tretend sämtliche Callcenter-Agenten, die überall auf der Welt sitzen, verkörpern. Und vor der Bühne, dort ist dann der Computer-Repair-Shop, dort also arbeitet der Protagonist.
   

VN: Und die Wand brechen wir dann irgendwann auf, wenn C seine Wohnung verlässt. Willst du dazu noch was sagen oder …?

MR: Naja, eines der großen Probleme ist ja schon die Behauptung von einem so realistischen Raum im Theater, eben weil Realismus ja nie bis ins Letzte hinein erzählt werden kann. Und weil das ja auch gar nicht unsere Idee sein sollte, einen solchen Privatort von so einem Menschen bis ins letzte Detail zu erzählen. Sondern da geht es natürlich um etwas Größeres, etwas, das die Figur übersteigt, etwas, das Allgemeingültigkeit bedeutet, und das Mittel, dessen wir uns da bedienen, ist eben das, was wir als Theaterzauber bezeichnen: dass immer alles voll von Nebel ist oder dass dann da auf einmal die Jalousie hochgeht und die Figur von bösen Geistern heimgesucht wird. Und dass man schlussendlich auch diese vierte Wand in Form der Gaze aufbricht und dann auch irgendwann da durch nach vorne kommt. Und so versuchen wir den Spagat hinzukriegen zwischen einerseits der Intimität der Figur, der Arbeitswelt und der Allgemeingültigkeit dessen, was da eigentlich erzählt sein will über Einsamkeit und das Manische und das fast Terroristische, was der Typ da mit den Callcentern abzieht, was ja durch die Einsamkeit erzeugt wird. Um das alles eben bestmöglich zu erzählen und gleichzeitig gerade nicht privat zu werden, sondern eine allgemeingültige Geschichte zu erzählen, die die meisten Leute kalt erwischt, weil wir uns ja wegen Corona alle irgendwann mal schrecklich alleine gefühlt haben. Dass das eben irgendwie greifbar wird. Genau. (Er überlegt lange. Die Bahnhofsatmo im Hintergrund.) Jo. Ich glaube, das war das meiste zum Bühnenraum.

VN: (leise) Genau.
   

MR: Ich glaube, was auch noch erwähnenswert ist, ist dass wir auch durch die Verschachtelung der Bühne und die vielen verschiedenen Auftrittsmöglichkeiten, die wir da jetzt haben, ganz viel möglich machen. Also der Protagonist tritt zum Beispiel durch den Kühlschrank auf. Das ist der Eingang. Der Kühlschrank. Es gibt keinen anderen Zugang zur Wohnung. Und dass diese Verschachtelung also – sei’s via Kamera oder physisch hinterm Fenster natürlich für sehr viele heitere Momente auch sorgt. Und dass das jetzt eben kein trauriger düsterer Abend ist über Einsamkeit, sondern ein Abend, der sich mit sehr viel Charme und Leichtigkeit erzählen lässt, ich glaube, das wäre noch etwas, dass man dazu erwähnen kann. Dass es durchaus auch sehr viele komödiantische Momente hat. (Die Bahnhofsatmo wird lauter.) Cool.

VN: Ja. Ich schick ihm dann das da noch vielleicht-

MR: Hm.

VN: -und Stichpunkte und… (hier bricht die Aufzeichnung einfach ab.)
   



Im Stück FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN beginnt Protagonist C nach einem nicht näher benannten schicksalhaften Erlebnis vor zwei Jahren eine persönliche Vendetta gegen Call-Center-Betrüger jeglicher Art. Jeden Abend, jede Nacht seither dreht er den Spieß einfach um und ruft selber an, dort, in den anonymen Callcentern allüberall auf dem Globus, um Rache zu üben an denjenigen, die sich in gebrochenem Deutsch den Anschein von Nähe, von Vertrauenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft geben, um uns um unser so teuer verdientes Erspartes zu prellen. Ein echter Mensch am andern Ende der Leitung, am andern Ende der Welt meinethalben – den zu finden, den ausfindig zu machen, ein Gewissen herauszukitzeln dann aus diesem einen echten Menschen im sonst so gewissenlosen Kundengespräch, kann das denn so schwer sein? – Und falls alles nichts bringt: „Ich rufe übrigens noch öfter bei euch an, wenn das so weitergeht mit eurem Robotertum. Bis es etwas menschlicher zugeht.“

"Amüsant, genial, mit Mut zum Skurrilen" findet SR2 Kulturradio. "In nur zwei Stunden werden in FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN die verschiedensten menschlichen Charakter auf die Bühne bzw. auf die Leinwand gebracht: vom schlecht deutsch sprechenden dubiosen Callcenter-Mitarbeiter bis hin zum angeblichen Bundesministerium für Steuern bekommt C. wirklich alles an die Strippe. Das ist ziemlich unterhaltsam [... mit einer] guten Portion Tragik, die nachdenklich macht." Und für die Saarbrücker Zeitung steht eines fest: dass nämlich "Lukas Janson als Neuzugang im Schauspielensemble des Saarländischen Staatstheaters ein Gewinn ist. Stark, wie souverän er das Stück trägt und wie sensibel und intensiv er die Gefühle und Brüche der verzweifelten Hauptfigur offen legt."
   


FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN
von Clemens J. Setz

Regie: Mark Reisig; Ausstattung: Viviane Niebling; mit Laura Trapp, Sèbastien Jacobi und Lucas Janson

weitere Vorstellungen am 16. und 26. Dezember 2022 und am 8. und 25. Januar und 9. Februar 2023 (weitere Vorstellungstermine in Planung)

   

   

Viviane Niebling, geboren 1991 in Frankfurt am Main, studierte Kunst mit Schwerpunkt Bühnen- und Kostümbild bei Prof. Rosalie sowie experimentelle Raumkonzepte bei Prof. Heiner Blum an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Im Verlauf ihres Studiums entstanden mehrere freie Kunst-Klangrauminstallationen, welche im Rahmen unterschiedlicher Ausstellungen und Wettbewerbe gezeigt, nominiert und ausgezeichnet wurden. Seit 2014 entwarf Niebling mehrere Bühnen- und Kostümbildarbeiten für Produktionen der Hessischen Theaterakademie und der HfMDK Frankfurt/Main. 2015 war Viviane Niebling Mitglied bei Play ­- Gesellschaftsspiele mit Kultur, einer Plattform für künstlerische und kulturelle Initiativen, welche Events an unterschiedlichen öffentlichen Orten in Frankfurt veranstaltet. Mit dem Regisseur Mark Reisig verbindet sie eine kontinuierliche Zusammenarbeit. FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN ist ihre zweite Arbeit für die sparte4, wo sie in der Saison 2020/21 ebenfalls mit Reisig Wolfram Lotz' DIE POLITIKER in Szene setzte. 
   

Mark Reisig studierte ab 2008 American Studies und Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und wechselte 2013 an die Hfmdk Frankfurt. wo er Regie studierte. In der Spielzeit 2016/17 gab er mit PHILOKTET von Heiner Müller sein Regie-Debüt am Staatstheater Mainz, mit dem er im Sommer 2017 nach Hamburg zum Körber Studio Junge Regie eingeladen wurde. Weitere Inszenierungen am Staatstheater Mainz waren Ferdinand Schmalz' DER HERZERLFRESSER und zuletzt INDIEN von Josef Hader und Alfred Dorfer. In der sparte4 inszenierte er bereits DIE POLITIKER von Wolfram Lotz in der Spielzeit 2020/21. 
   


   
* mit diesem E-Letter dürft Ihr natürlich machen, was Ihr möchtet, ihn drucken, löschen oder wieder und wieder lesen. Aber am schönsten wär’s doch, finden wir von der sparte4, Ihr würdet ihn und seine frohe Kunde einfach weiterverbreiten. Nur zu! Immerhin heißt das Ding ja nicht umsonst KETTENBRIEF!
   



SPIELSTÄTTE

 

sparte4

Eisenbahnstr. 22/Ecke Stengelstraße (1.Stock)
66117 Saarbrücken

Haltestelle Hansahaus/Ludwigskirche
Buslinien 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 121, 122, 123, 126, 127, 128, 12

Abendkasse 0681 9590571 
Ab einer Stunde vor Vorstellungsbeginn geöffnet.

Student*innen schauen für umsonst! 

Kostenlose Theaterkarten erhalten Studierende der Universität des Saarlandes, der HTW, der HfM Saar und der HBK Saar im Rahmen der Kooperationsvereinbarungen gegen Vorlage ihres Studierendenausweises ab drei Tage vor der Vorstellung. Ausnahmen und Sonderregelungen bitte an der Theaterkasse oder bei der jeweiligen Hochschule erfragen.

 


Impressum:

 

Redaktion: Thorsten Köhler, Luca Pauer – Künstlerische Leitung sparte4

Kettenbrief n° 4 (22/23): "FLÜSTERN IN STEHENDEN ZÜGEN":  das Gespräch transkribierte Thorsten Köhler, kurze Stückzusammenfassung von Thorsten Köhler und Horst Busch

Bildnachweise: © Szenenfotos von 'Flüstern in stehenden Zügen': Martin Kaufhold; © Foto von Viviane Niebling: Carina Jirsch; © Foto von Mark Reisig: Holger Kiefer

 

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Impressum
Verantwortlich für den Inhalt des Internetangebotes der Saarländischen Staatstheater GmbH im Sinne des Telemediengesetzes (TDG): Generalintendant Bodo Busse, Kaufmännischer Direktor Prof. Dr. Matthias Almstedt | Adresse: Saarländisches Staatstheater GmbH, Schillerplatz 1, 66111 Saarbrücken
Karten Telefon Vorverkauf (0681) 3092-486, Abonnement (0681) 3092-482, Mail kasse@staatstheater.saarland | Öffnungszeiten Vorverkaufskasse: Dienstag bis Freitag 10 – 18 Uhr, Samstag 10 – 14 Uhr, Telefonisch auch montags 10 – 16 Uhr.

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