Anfang Juni feierte unsere letzte Inszenierung in dieser Spielzeit ihre fulminante Premiere und wir lieben es unwahrscheinlich.
Rosa von Praunheims Kultfilmgroteske DIE BETTWURST aus dem Jahr 1971 als flotte Musicalfassung erobert Bühne und Herzen gleichermaßen! In der vermeintlich banalen Liebesgeschichte treffen sich Luzi, alternde Sekretärin in der Gerichtsmedizin, und Dietmar, nach eigner Auskunft kleinkriminelle Tunte aus dem Drogenmilieu auf der Flucht vor seiner dunklen Vergangenheit, zufällig am Kieler Hafen, kommen ins Gespräch, verfallen einander und beschließen, fortan ein anständiges Leben in trauter Zweisamkeit zu führen: Fotoalben, Schrebergarten, Wohnungsputz und Tanzlokal - eben alles, was zur Gutbürgerlichkeit in geordneten Verhältnissen dazugehört. Sogar in Sex versucht man sich, weil: muss ja. Immerhin isses Liebe auf den ersten Blick! Luzi und Dietmar sind noch nie so glücklich gewesen. Doch dann wird Luzi entführt. Und Dietmar geht zum Äußersten, um die Liebe seines Lebens zu retten.
Wir haben Regisseur Paul Spittler auf den Zahn gefühlt. Das Gespräch führte die stückbetreuende Dramaturgin Gesa Oetting.
Gesa:Der Film Die Bettwurst ist Kult, die Uraufführung des Musicals in der Bar jeder Vernunft in Berlin im Herbst 2022 inszenierte Rosa von Praunheim selbst – wie habt ihr euch durch den Mythos Bettwurst und die Vorlagen manövriert?
Paul: Zunächst muss ich wohl zugeben, dass ich Die Bettwurst gar nicht kannte, den Film zuvor nie gesehen hatte. Und dass mir der Kult um den Film auch nicht bewusst war. Rosa von Praunheim wiederum war mir natürlich ein Begriff, seine aufklärerischen, agitatorischen & vor allem dokumentarischen Filme der 1970er und -80er Jahre waren für mich jungen Schwulen vom Land ein must see und haben mich geprägt. Seine Spielfilme waren mir halbwegs unbekannt. Als Thorsten Köhler von der Idee hörte, dass die Bettwurst als Musical von Rosa selbst inszeniert in Berlin uraufgeführt werden soll, hat er (wie immer) ein sehr gutes Gespür bewiesen und mich schnell überredet, die "Katze im Sack zu kaufen" - denn es gab zu dem Zeitpunkt weder eine Textfassung noch die Musik, sondern nur diese irrwitzige Idee. Ich habe dann endlich den Film gesehen und war schockiert, und hab dann panisch Thorsten angerufen, um alles wieder abzublasen – doch da war der Vertrag mit dem Verlag schon unterschrieben und wir mussten da durch. Eine Entscheidung, die ich nie bereut habe! Naja, und anschließend haben wir uns intensiver mit dem Thema "traditionelle (heterosexuelle) Zweierbeziehung" auseinandergesetzt, was das in der BRD der 1970er-Jahre bedeutet hat, was es im Jahr 2023 bedeutet. Haben Sehnsüchte und Motivationen abgeklopft. Haben Rosas Œuvre befragt, diese unbändige Lust, anzuecken und zu provozieren – und haben schließlich extrem viel Spaß daran gehabt, diesen Stoff zu adaptieren und unser eigenes kleines Kultobjekt zu schaffen.
G: "Es ist gut, weil es schrecklich ist" schreibt Susan Sontag 1964 in ihrem Essay über die Kunstform Camp. Für manche totale Fremdscham und ein Vorführen von zwei mehr als offenkundigen Laiendarsteller*innen, gilt der FilmDie Bettwurstals camp at its best. Wie war es, Camp auf die Bühne der sparte4 zu bringen?
P: Das war und ist eigentlich die größte Herausforderung für's Theater, dass der Film mit diesen beiden ikonischen Laiendarsteller*innen arbeitet – und genau darüber ja auch seinen enormen Reiz bekommt. Solche Typen findest du ja nicht im Staats- und Stadttheaterbetrieb, hier sind ja alle professionell ausgebildete Spieler*innen. Ich vermute ja, dass Rosa deswegen seinen Film für die Bühne als Musical adaptiert hat: Diese Form von Theater funktioniert eben auch über Überhöhung und Trash, über unernste und (vermeintlich) einfache Zugänge. Form über Inhalt. Das ist natürlich total dekadent, aber eben auch geil, wenn mensch sich drauf einlässt. Wir deutschsprachigen Theatermacher*innen und -konsument*innen schauen viel zu oft auf queere bzw. "andere" Formen der Ästhetik, der Erzählweise, des Spiels, der Inhalte herab, statt sie zu würdigen, wie es beispielsweise in Frankreich oder Großbritannien, vor allem aber auch in Südamerika der Fall ist. Das ist schade. Kommen wir doch mal von unserem hohen Ross der "Kulturnationblabla" runter und lieben den Affekt, den Genuss, die Hingabe! Ich plädiere stark für eine Nouvelle Vague des Camp! Was Camp denn auch in 2023 überhaupt bedeuten mag...
G:Der Film ist Anfang der 1970er-Jahre erschienen – die Lesben- und Schwulenbewegung steckte in ihren Anfängen, Homosexualität war für Männer über 21 gerade erst straflos gestellt worden. Was erzählt die Bettwurst 2023?
P:Die Bettwurst erzählt in seiner Bühnenfassung 2023 noch immer die Geschichte zweier Menschen, die Gestrandete am "falschen" Ufer sind. Zwei Menschen, die denken, dass sie etwas erfüllen müssen, das sie nicht sind – weil die Gesellschaft um sie herum ihnen ein "So-musst-du-sein" vorgaukelt. Luzi ist zu schrill, zu bunt, zu laut, zu extrovertiert, zu selbstbewusst. Dietmar ist zu schwul, zu hibbelig, zu zart, zu weiblich, kein kerniger Prototyp. Diese beiden wunderbaren Kauze, die fernab jeder Heteronormativität (und damit meine ich absolut nicht, dass Heterosexualität in irgendeiner Weise angekreidet werden müsste, das wird dann ja immer gern von denen reingelesen, die sich von uns Queers auf den Fuß getreten fühlen) leben, stehen für alle Menschen, die dem patriarchalen, hyperkapitalistischen, weißen, schlanken, heteronormen, bourgeoisen, ... System nicht angehören und sich einen Ausweg suchen – und ihn finden. Homosexualität mag seit den 70ern in Deutschland straffrei gewesen sein, doch der Paragraph 175 bestand bis 1994 weiter! 1990 erst strich die WHO Homosexualität von der Liste der psychischen Erkrankungen! Gerade befassen sich verschiedene europäische Rechtssysteme mit der Verschärfung von Gesetzen gegen und mit der Verfolgung von LGBTIQ+Personen in ihren Ländern. International wächst der Hass gegen Menschen, die nicht ins jeweilige System passen. Ich will keineswegs sagen, dass Die Bettwurst gegen diese Ohnmacht etwas tun kann. Aber sie ist vielleicht ein Trost und ein Lichtblick.
Und das sagt die Presse:
" [Ein] theatralisches und musikalisches Feuerwerk! [...] Spektakel der Extraklasse!" - Jana Bohlmann, SR2 Kulturradio
"Paul Spittlers Bettwurst-Inszenierung in der sparte4 [...] – eine große Gaudi! [...] Die Inszenierung in Saarbrücken ist ein Fest für alle Beteiligten, nicht zuletzt für die Mimen: Christiane Motter gibt Luzi, dieser energischen Sucherin nach häuslichem Glück, eine gewisse Härte mit, das Leben hat ihr die Naivität ausgetrieben. Da mag sie noch so verträumt ihre rosaroten Vorhänge streicheln und mit einer enorm in die Höhe gepressten Stimme Liebesschwüre ins Eigenheim jauchzen [...] und [...] Thorsten Köhler erweist sich als wonnige Rampensau. [...] Motter und Köhler [...] haben eine enorme Chemie, ob nun beim wundersam banalen Small Talk über Kiel oder bei einer der tragikomischsten Momente: Wenn das Paar sich gegenseitig fast bis zur Besinnungslosigkeit schwört, immer und ewig zusammenzubleiben [...]." - Tobias Kessler, Saarbrücker Zeitung
"Mit der Bettwurst hat die sparte4 auch über diese Spielzeit hinaus ihren Publikumsmagneten gefunden!" - Burkhard Jelonnek, OPUS Kulturmagazin
"Die Bettwurst ist ein Traum von Akzeptanz… und das gleich zu Anfang des Pride Months. Only love matters." - ViviSaar - das deutsch-italienische Kulturmagazin
DIE BETTWURST DAS MUSICAL! von Rosa VON PRAUNHEIM | Musik von Heiner BOMHARD
mit: Christiane Motter, Laura Trapp; Jan Hutter, Thorsten Köhler, Michi Wischniowski Band: Cordula Hamacher, Jochen Lauer, Achim Schneider
Premiere am 2. Juni 2023 Weitere Vorstellungen am 30. Juni und 7. Juli, Wiederaufnahme am 21. September 2023, jeweils um 20 Uhr (weitere Vorstellungen in Planung)
BUCHTIPP(S):
Mit unserer Partnerbuchhandlung, dem buchladen im Nauwieser Viertel, möchten wir euch ab sofort als Ergänzung zum Premieren- oder Vorstellungsbesuch weiterführende Literatur empfehlen. Wir wollen interessierten oder neugierig gewordenen Zuschauer*innen so tiefere Einblicke in die weitere Konzeption eines Theaterabends ermöglichen. In Vorbereitung auf DIE BETTWURST und seiner Beschäftigung mit Rosa von Praunheim und dem Begriff des Campen lasen und empfehlen Regisseur Paul Spittler und Dramaturgin Gesa Oetting folgende Bücher:
ROSA VON PRAUNHEIM: ROSAS THEATER VIER STÜCKE Erschienen als Fischer Taschenbuch, 192 Seiten 15,00 Euro
SUSAN SONTAG: KUNST UND ANTIKUNST 24 LITERARISCHE ANALYSEN Erschienen als Fischer Taschenbuch, 384 Seiten 24,00 Euro
ROSA VON PRAUNHEIM: DIE BETTWURST UND MEINE TANTE LUCY Erschienen im Rosa-von-Praunheim-Filmverlag, 100 Seiten, Zahlreiche Abbildungen 15,00 Euro
Nur an unserer Bar erhältlich!
In Kooperation mit:
* mit diesem E-Letter dürft Ihr natürlich machen, was Ihr möchtet, ihn drucken, löschen oder wieder und wieder lesen. Aber am schönsten wär’s doch, finden wir von der sparte4, Ihr würdet ihn und seine frohe Kunde einfach weiterverbreiten. Nur zu! Immerhin heißt das Ding ja nicht umsonst KETTENBRIEF!
Abendkasse 0681 9590571 Ab einer Stunde vor Vorstellungsbeginn geöffnet.
Student*innen schauen für umsonst!
Kostenlose Theaterkarten erhalten Studierende der Universität des Saarlandes, der HTW, der HfM Saar und der HBK Saar im Rahmen der Kooperationsvereinbarungen gegen Vorlage ihres Studierendenausweises ab drei Tage vor der Vorstellung. Ausnahmen und Sonderregelungen bitte an der Theaterkasse oder bei der jeweiligen Hochschule erfragen.
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