MÄGDE, BUBEN!
Zuletzt in der Saison 19/20 mit seinem großen Wurf DESINTEGRIERT EUCH! zu Gast in Eurer sparte4 gewesen, präsentiert Max Czollek am kommenden Mittwoch, den 19. April, sein neuestes Werk VERSÖHNUNGSTHEATER in unserer Lesereihe SPARTENSPRECHER!
Es ist genug Trauer für alle da! – Czolleks legendäre Bücher streuen lustvoll Zweifel an den deutschen Narrativen von Integration bis Leitkultur. Scharf, gewitzt und an jeder Stelle überraschend legt auch VERSÖHNUNGSTHEATER den Finger an die Wunde, wenn es nach der aktuellen Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit fragt. Seit weltweit bewunderten Gesten der deutschen Selbstvergewisserung vom Warschauer Kniefall bis zum Holocaust-Mahnmal hat sich in letzter Zeit einiges verändert: Das Berliner Stadtschloss feiert Preußens Könige, mit dem neuen Militärhaushalt wird eine Zeitenwende beschworen und der Bundespräsident spricht auf seiner Israelreise von „Versöhnung“. Deutschland ist wieder wer, auch weil es sich so mustergültig an den Holocaust erinnert. Herzlich willkommen zum Versöhnungstheater!
Im Rahmen der Veröffentlichung seines neuesten Buches führte die Lektorin Annika Domainko ein Interview mit dem Autoren.
10 FRAGEN AN MAX CZOLLEK
Lieber Max, mit deinen letzten beiden Büchern hast du dich als wichtige Stimme gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung jeder Art aber vor allem auch für die Selbstbestimmung von Menschen in dieser Gesellschaft etabliert. Dein neues Buch heißt Versöhnungstheater. Was hat es damit auf sich?
Das positive Selbstbild der deutschen Gesellschaft basiert auch auf einer vermeintlich guten und umfassenden Erinnerungskultur. Diese Erinnerungskultur hat in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Phasen durchlaufen. Die Kernthese, die das Buch aufstellt, lautet, dass wir in eine neue, dritte Phase der Erinnerungskultur eingetreten sind – das Versöhnungstheater. Die erste Phase (westdeutscher) Erinnerungsarbeit drehte sich um die sogenannte Vergangenheitsbewältigung, die von außenpolitischen Gesten der „Wiedergutmachung“ und innenpolitischen Amnestiegesetzen geprägt war. Der Kniefall Willy Brandts 1970 markiert den Beginn der zweiten Phase der Erinnerungskultur, die in der Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 ihren Höhepunkt fand. Beide Ereignisse verweisen schon auf ein zentrales Charakteristikum dieser Phase: die Intensivierung der symbolischen Ebene, die sich etwa in Reden, Gesten, Erinnerungsbauwerken und Gedenktagen ausdrückt. Die dritte Phase der Erinnerungskultur beginnt mit der Vereinigung beider deutscher Staaten. Darin wird die Infrastruktur der Erinnerung, die die Jahrzehnte zuvor etabliert worden ist zum Ausgangspunkt, Deutschland als gute Nation wieder neu zu denken. Die Erinnerungskultur wird also im Versöhnungstheater zu einem Motor eines positiven nationalen Selbstbildes.
Wo siehst du dieses Versöhnungstheater aktuell am Werk, im Großen und Kleinen?
Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, mit denen ich mich in meinem Buch befasse, etwa die Rede von Bundespräsident Steinmeier im Januar 2020 in Yad Vashem, dem zentralen Erinnerungsort an die Shoah in Jerusalem. Steinmeier war für die 75-Jahr-Feier der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum World Holocaust Forum eingeladen worden und bedankte sich bei den gastgebenden Israelis für das „Wunder der Versöhnung“. Hier zeigt sich ein zentraler Aspekt der dritten Phase der Erinnerungskultur: die Gleichsetzung von Erinnerung und Versöhnung, so als sei die symbolische Handlung bereits Ausdruck der realen Handlung, die sie vermeintlich anzeigt, in Wirklichkeit aber häufig ersetzt. Diesen Aspekt der symbolischen Ebene der Erinnerung als Ersatzhandlung schaue ich mir insbesondere in Bezug auf die ausbleibende Strafverfolgung von Nazitäter*innen an, die in der Bundesrepublik und auch in der DDR ab den 1950er Jahren weitestgehend unbehelligt leben und nicht selten an ihre Karrieren anknüpfen konnten. Dieser Fakt unterstreicht noch einmal, dass die Intensivierung der symbolischen Ebene ab der zweiten Phase der Erinnerungskultur nicht mit einer Intensivierung realer Handlungen verwechselt werden sollte. Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung nenne ich das. Ein dritter Aspekt betrifft die Erinnerungsarchitektur, also die Art und Weise, wie der deutsche Staat Architektur und Geschichte zusammendenkt. Und da schaue ich mir insbesondere das zentrale Erinnerungspolitische Projekt Berliner Stadtschloss an. Meine These ist, dass die alte Residenz der Preußenkönige ohne das Denkmal für die ermordeten Juden Europas niemals so frei von jedem Selbstzweifel hätte gebaut werden können. Erst musste die Gewaltgeschichte in einem Denkmal gebannt werden, bevor man die deutsche Geschichte als gute Geschichte neu erfinden konnte. Auch das ist Ausdruck des Versöhnungstheaters – eine Versöhnung der deutsch-deutschen Gesellschaft mit sich selbst und ihrer Geschichte.
Das Versöhnungstheater, wie du es beschreibst, beschränkt sich letztlich aber nicht auf die großen politischen Gesten. Wo finden sich seine Folgen auch in unserem Alltag?
Ich würde sagen, dass die Versöhnung so etwas wie der Pathos der Erinnerungskultur ist. Im Familienkreis, beim Publikumsgespräch, bei der Gedenkveranstaltung ist man tief gerührt von dieser Geste der Versöhnung, die umso bedeutsamer wird, je schlimmer das Verbrechen scheint, auf das man rekurriert. Dabei entsteht dieser eigenartige Exhibitionismus, mit dem die Shoah manchmal dargestellt wird, so als würde man sich an den Bildern der Gewalt berauschen. Je größer der Kontrast, desto stärker die Wirkung. Merkwürdige ist daran auch, dass diese Versöhnung ein Stück ist, was eine nicht-jüdische deutsche Öffentlichkeit weitgehend ohne lebendige Nachkommen der Opfer aufführt. Oder anders gesagt: man hat sich die versöhnlichen Stimmen der Opfer und ihrer Nachkommen einfach dazuerfunden, selbst wenn die Juden und Jüdinnen das gar nicht hergaben. Nach Jahrzehnten dieser Inszenierung ist man nun so überzeugt davon, dass das wirklich stattgefunden hat, dass das in öffentlichen und privaten Begegnungen zu eigenartigen Dissonanzen führt. So als wäre man überrascht, dass die lebendigen Nachkommen der Opfer gar nicht so versöhnlich sind, wie man sie sich ausgemalt hat. Und das ist fast schon ironisch, weil das Versöhnungstheater am Ende daran scheitert, dass es Theater ist und keine Realität. Oder besser: scheitern müsste, denn die Meisten Menschen lassen sich davon nicht weiter beirren.
Was schlägst du als Alternative zum performativen Erinnern vor – konzeptionell und praktisch?
Eine Kritik am Versöhnungstheater bedeutet erst einmal, dass man danach fragt, wer hier eigentlich im Zuschauerraum sitzt und das Stück genießt, was da zur Aufführung kommt. Wer wünscht sich Versöhnung? Und welche Perspektiven und Gefühlszustände bleiben dabei ausgeschlossen? Es ist fast ein wenig kurios, dass eine Erinnerungskultur, die sich selbst für die eigene Aufarbeitung preist, die emotionale Dimension der Untröstlichkeit und der Unversöhnlichkeit fast schon paradigmatisch ausschließt – denn dadurch werden die Stimmen genau jener Menschen ausgeschlossen, für die diese Erinnerungskultur vermeintlich auch da ist: die der Opfer und ihrer Nachkommen.
Das ist auch ein konzeptionelles Problem, denn solange man Erinnerung als Instrument versteht, um eine positive Identifikation mit der Nation zu befördern, solange ist man auch darauf angewiesen, die deutsche Geschichte als Ort der positiven Identifikation zu erzählen. Und wenn sie das nicht hergibt, dann eben wie beim Berliner Stadtschloss einfach zu erfinden. Darum geht es auch um eine Kritik an dieser Idee, die in vergangener Zeit prominent von der Gedächtnisforscherin Aleida Assmann formuliert worden ist: dass die Erinnerungskultur einer Entkrampfung des Verhältnisses zur Nation dienen sollte. Meine Gegenthese dazu lautet: Erinnerungskultur ist dazu da, die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.
Das ist nicht zufällig die Haltung die im letzten Drittel des Buches in den Blick gerät. Da komme ich nämlich auf Beispiele zu sprechen, die aufseiten der Zivilgesellschaft stattfinden und seit Jahrzehnten stattgefunden haben – nicht selten unterhalb des Radars öffentlicher Aufmerksamkeit und staatlicher Erinnerung. Entfernt man sich dabei auch von den Rollen, die Minderheiten vor dem Hintergrund der deutschen Erinnerungskultur zugeschrieben werden, sieht man: Es gibt eine antifaschistische Tradition unter Gastarbeiter*innen, es gibt auch eine Geschichte des Verbündet-Seins zwischen Juden und Jüdinnen und anderen diskriminierten Gruppen wie Sinti*ze und Rom*nja, Muslim*innen, Türk*innen, Queers und so weiter in der postnationalsozialistischen Gesellschaft. Und das ist auch praktische Erinnerungskultur im dem Sinne, wie ich sie gerade beschrieben habe.
In Desintegriert euch! hast du dich für eine lebendige Pluralität ausgesprochen, in Gegenwartsbewältigung stand die Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ im Zentrum. Wie schließt dein neues Buch an diese Diskussionen an, was fügt es hinzu?
Mit meinen Essays verfolge ich ein Projekt, was man als Ideologiekritik einer deutschen Gegenwart bezeichnen könnte. Diese Gegenwart ist meiner Wahrnehmung nach aufgespannt zwischen Fragen der Zugehörigkeit, des Umgangs mit der Gewaltgeschichte und des eigenen Selbstbildes. Dazu passt die Frage nach der Erinnerungskultur, denn in einer Gesellschaft, die ihre Selbstbild so stark aus der Erinnerung schöpft wie die Deutsche, hat Erinnerung Teil an der Frage nach Zugehörigkeit. Daher ist es kein Zufall, dass sich Argumentationsmuster, die einem aus Integrationsdiskursen bekannt vorkommen werden, auch in Bezug auf Erinnerungskultur erleben: Die teilen nicht unsere Erinnerungskultur, die sind gefährlich für unsere Gesellschaft, die gehören nicht dazu. Dagegen steht eine Realität des gemeinsamen Kampfes gegen die Gewalt, die die postnationalsozialistische Gegenwart auch weiterhin produziert, ganz gleich, wie oft sie ihre eigene Wiedergutwerdung beschwört. Bedrohte Minderheiten wissen, wie es um die Aufarbeitung wirklich bestellt ist und darum gilt hier was schon mit dem ersten Buch gefordert wurde: Eine Desintegration aus den Selbstberuhigungs- und Selbstbeschwörungsgesten einer deutsch-deutschen Gesellschaft, die zwar wieder gut sein will, aber keine Verantwortung übernehmen möchte, indem sie die Strukturen ändert, die diese Gewalt möglich gemacht haben und bis heute ermöglicht.
Wie erlebst du jüdisches Leben zurzeit in Deutschland?
Jüdisches Leben in Deutschland hat sich seit den 1990er Jahren so fundamental gewandelt, dass man von einem Neuanfang sprechen muss. Über neunzig Prozent der Juden und Jüdinnen, die heute in Deutschland leben, haben ihre Wurzeln in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und nicht einmal mehr fünfzig Prozent der jüdischen Bevölkerung ist Teil jüdischer Gemeinden. Das westdeutsche Judentum, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und seine Institutionen ausgeprägt hat, gibt es nicht mehr. Wie jeder Neuanfang erzeugt so eine massive Umwälzung nicht nur Potentiale und neue Ideen, sondern auch Ängste und Aggressionen, die nicht selten in erbittert ausgefühlten Feuilletondebatten Ausdruck finden. Diese Situation wird erschwert durch eine nicht-jüdische deutsche Öffentlichkeit, die ihre Vorstellung von Judentum und jüdischen Leben bewusst oder unbewusst aus der Erinnerungskultur und ihrer Gegenüberstellung von Deutschen und Juden gewinnt. Und das ist eine Gegenüberstellung, die von den Nazis eingeführt wurde und die niemals der Realität jüdischen Lebens entsprochen hat – nicht bis 1933, nicht zwischen 1933 und 1945 und auch nicht danach.
Und wie würdest du es dir wünschen?
Also erst mal wäre es wichtig, anzuerkennen, was bereits existiert. Ich glaube, dabei ist die größte Herausforderung für eine nicht-jüdische Öffentlichkeit, den eigenen Blick wieder zu weiten für die Unterschiedlichkeit jüdischer Realitäten jenseits von Religiosität und Erinnerungskultur und dabei auch die politischen Differenzen auszuhalten, die es bei Juden und Jüdinnen selbstverständlich ebenso gibt wie überall anders. Innerjüdisch sollte es darüber hinaus um die Frage gehen, wie der Generationenwechsel doch noch auf eine Weise stattfinden kann, in der wir uns gegenseitig anerkennen. Die Alternative wäre, dass die alten draufhauen, während die jungen einfach warten, dass die ältere Generation abtritt. Und das wäre doch sehr schade, denn wir können und sollten voneinander lernen. So hat das Judentum immer funktioniert und letztlich ist es doch das, was eine plurale und lebendige Gruppe ausmacht: dass man sie nicht auf einen Nenner, eine Definition, eine Beschreibung ihrer Lebendigkeit reduzieren kann.
Woher stammt in deinen Augen aktuell die größte Bedrohung einer wirklich pluralistischen Gesellschaft?
Ich denke, dass im Hintergrund der politischen Radikalisierung des rechten politischen Lagers in den vergangenen Jahren tatsächlich die Systemfrage steht: Wollen wir die Gesellschaft auf Augenhöhe bringen mit ihrer eigenen radikalen Vielfalt, die ja schon heute Realität ist? Oder wollen wir zurück in eine Zeit der nationalen Homogenität und Hierarchisierung? In der Zuspitzung dieser Frage zeigt sich zugleich ein Bewusstsein dafür, dass die plurale Demokratie sich weiterentwickelt hat. Gruppen, die früher gar nicht erst gehört wurden, werden heute wahrgenommen und haben eine Stimme., die auch politische Entscheidungen beeinflusst. Die Situation ist also gleichermaßen gut und schlecht, weil wir zugleich wissen, dass die deutsche Gesellschaft durchaus in der Lage gewesen ist, die faktische Realität der Vielfalt gewaltvoll den eigenen Phantasien von Homogenität zu unterwerfen. Auch hier könnte Erinnerungskultur übrigens weiterhelfen, nicht als positives Beispiel, sondern indem sie uns zeigt, wie schlimm die Dinge werden können.
Anfang 2023 erscheint Desintegriert euch! auch in den USA auf Englisch. Wie erlebst du die Debatte dort – wo ist sie vergleichbar, inwiefern anders als hier in Deutschland?
Ich bin gespannt, wie das Buch im englischsprachigen Raum aufgenommen wird. Die Diskussion um radikale Vielfalt ist dort nuancierter und an vielen Stellen auch weiter als in Deutschland. Das hat auch mit dem Selbstbild der USA zu tun. Bei allen Problemen ist nämlich klar, dass die US-Gesellschaft eine plurale Gesellschaft ist. Die Diskussion, wie sie in Deutschland über die Realitäten der Migrationsgesellschaft geführt werden, wäre in den USA schwer vorstellbar. Zugleich muss eine jüdische Perspektive in englischsprachigen Antidiskriminierungsräumen meiner Einschätzung nach mehr auf Wahrnehmung pochen als in Deutschland, das hat David Baddiel mit seinem Buch Jews don‘t count (auf Deutsch erschienen als Und die Juden?) vergangenes Jahr noch einmal unterstrichen. Ich denke, dass die Erfahrungen der deutschen Zivilgesellschaft da auch Impulse setzen könnte, um eine zunehmend polarisierte Debatte zu unterlaufen. Ich fände es wirklich toll, wenn die englische Übersetzung zu einem internationalen Dialog über die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen eines Denkens radikaler Vielfalt, der Selbstbestimmung von Minderheiten und einer Kritik von Macht und Gewalt beitragen könnte.
Wem würdest du dein aktuelles Buch am liebsten zur Lektüre in die Hand drücken? Was würde diese Person in einer idealen Welt daraus mitnehmen?
Ich verstehe meine Bücher als Debattenbeiträge, nicht als Policy Papers mit konkreten Empfehlungen. Wenn Menschen das Versöhnungstheater lesen und ins Grübeln kommen, dann habe ich das erreicht, was ich erreichen wollte. Das Ziel ist nicht, dass man danach denkt wie ich, sondern dass man danach versteht, dass es unterschiedliche Perspektiven auf die Themen gibt, die ich mir anschaue. Und dass man die andere Perspektive nachvollziehen kann, ohne dass man deshalb die eigene aufgeben muss. Für mich ist das eine Kernlektion für eine plurale Demokratie. Eine weitere ist, dass wir Antworten nur gemeinsam finden können. Aber vielleicht schafft dieses Buch, ein paar gute Fragen zu formulieren.